Die kanadische Armee half
deutschen Kriegsgefangenen nach der Kapitulation 1945 bei der Erschießung von Deserteuren
Fünf Tage nach der Kapitulation Nazideutschlands hatte die kanadische Armee
nichts besseres zu tun, als Handlanger der deutschen Kriegsgerichte zu spielen: Sie
beteiligte sich aktiv an der Hinrichtung von zwei deutschen Deserteuren der
Reichskriegsflotte in Amsterdam.
Es sollte 16mal knallen. Den acht deutschen Soldaten des Hinrichtungskommandos hat man
ihre wenige Tage zuvor eingesammelten Gewehre zurückgegeben und diese mit jeweils zwei
Schuß ausgestattet. Die Verurteilten werden an eine Bunkerwand des Schießstandes
Schellingwoud (nahe Amsterdam) gestellt. Um 17.40 Uhr stirbt Rainer Beck. Fünf Minuten
später ist auch Bruno Dörfer tot. Die kanadische Offiziere Webster und Swinton
beaufsichtigen den Mord. Danach laden sie die kriegsgefangenen deutschen Soldaten wieder
auf ihren kanadischen Lastwagen und bringen sie zurück ins Sammellager.
Kompaniekommandant Pierce fragt anschließend, wie die Deutschen es fertig bringen
könnten, zwei Männer an so einen wunderschönen Tag zu erschießen, wo doch jetzt der
Krieg vorbei sei. "Diese Männer desertierten, und wenn wir es ihnen erlaubt gewesen
wäre, nach Hause zu ihren Kindern zu gehen, dann hätten sie auch diese verdorben."
antwortet ihm ein deutscher Offizier. Dieser schöne Tag ist der 13. Mai 1945 - seit fünf
Tagen ist der zweite Weltkrieg in Europa zu Ende.
Rainer Beck: "Wenn ich die deutsche Uniform trage, bin ich ein Schweinehund"
Rainer Beck war erst 28 Jahre alt, als man ihn umbrachte. Geboren und aufgewachsen war
er in Gleiwitz, dem Ort, in dem die Nazis den polnischen "Überfall" auf die
Rundfunkstation inszenierten. Sein sozialdemokratischer Vater war nach dem faschistischen
Machtantritt von seinem Posten als Polizeipräsident der Stadt geflogen. Mutter Beck war
Jüdin. Beck galt damit als Halbjude, wurde von der Oberschule geworfen und ging 1936 als
Kohlentrimmer zur Handelsmarine. Im dritten Kriegsjahr wurde sein Schiff
dienstverpflichtet und alle Besatzungsmitglieder zur Kriegsmarine eingezogen.
Der Kriegsmarine war nicht bekannt, daß Becks Mutter Jüdin war. Halbjuden galten als
wehrunwürdig. Hätte sich Beck geoutet, dann hätte er sich und seine Mutter in Gefahr
gebracht. Mit der Uniform hoffte er, seine Mutter vor dem Zugriff der Nazis schützen zu
können. Durch den frühen Tod des "arischen" Vaters war die Mutter nicht mehr
privilegiert, mußte Schikanen über sich ergehen lassen und mit ihrem Abtransport
"nach Osten" rechnen. Beck schickte ihr regelmäßig seinen Wehrsold und zeigte
sich demonstrativ in Uniform an der Seite seiner Mutter, wenn er den Fronturlaub in
Gleiwitz verbrachte. Beck war sich bewußt, in welcher Zwickmühle er sich befand:
"Wenn ich die deutsche Uniform trage, bin ich ein Schweinehund. Wenn ich sie nicht
trage, bin ich auch einer. Dann liefere ich meine Mutter und mich selber aus."
Im September 1944 war Beck mit seiner Truppe in Amsterdam, wo sich auch seine Schwester
aufhielt. Diese riet ihm, einen Marschbefehl nach Deutschland nicht zu folgen, da dort die
Gefahr größer war, als Halbjude enttarnt zu werden. Beck versteckte sich bis zum 5. Mai
in Amsterdam.
Oliver Mace: "Stellen Sie sie doch vor ein Kriegsgericht"
In der "Festung Holland" hielten sich zum Kriegsende ungefähr 150 000
deutsche Soldaten auf. Sie hatten mit der Zerstörung des Deichsystems gedroht, falls die
Alliierten Truppen, hauptsächlich Kanadier und Briten, weiter vordringen sollten. Das
hätte zu einer Überflutung weiter Landstriche geführt. Daher war der Frontverlauf in
den letzten Kriegswochen relativ stabil geblieben. Kanadier und Deutsche arrangierten sich
miteinander und trafen eine Reihe von Übereinkünften. Im April 1945 wurden von den
Alliierten Lebensmittel für die Zivilbevölkerung durch die deutschen Linien
transportiert. Damit begann die Zusammenarbeit der kanadischen mit der deutschen Armee. Am
5. Mai kapitulierten die deutschen Truppen in Holland, Dänemark und Nordwest-Deutschland.
Nach der Kapitulationsvereinbarung waren die Deutschen weiterhin verantwortlich für alle
bewaffneten deutschen Truppen auf diesem Gebiet und für die Disziplin der deutschen
Soldaten. Weite Teile der niederländischen Administration, Kommunikation und der
Infrastruktur blieben vorerst unter deutscher Kontrolle. Von der kanadischen Seite wurde
die deutsche Militärführung als ein Element der Ordnung im Chaos angesehen. Die
Niederländer zeigten in diesen Tagen wenig Verständnis dafür, daß auf der einen
Straßenseite bewaffnete deutsche Truppen marschierten und auf der anderen kanadische
Soldaten patrouillierten. Viele deutsche Einheiten entwaffneten sich in dieser Zeit selbst
und marschierten uneskortiert in die Sammellager. Die Kanadier schienen in den ersten
Wochen hoffnungslos überfordert, um die vollständige Kontrolle über die deutschen
Einheiten in den Lagern zu übernehmen. Regelmäßig wurden deutsche Deserteure
aufgegriffen, die in der Regel zu den anderen Kriegsgefangenen gesteckt wurden.
Der kanadische Major Oliver Mace hatte in diesen Maitagen viel zu tun. Er war Herr
über 3800 internierte deutsche Matrosen in Hembroug. Am 12. Mai wurde Rainer Beck
zusammen mit dem fahnenflüchtigen Bruno Dörfer von Mitgliedern der niederländischen
Widerstandsbewegung in Maces Lager abgeliefert. Die deutsche Lagerführung um
Fregattenkapitän Alexander Stein verlangte von Mace, daß man die Deserteure aus dem
Lager entfernen sollte, weil "ein fauler Kopf die ganze Ladung verdirbt". Stein
gab später zu Protokoll, daß Mace geantwortet hätte: "Herr Kapitän Stein, wenn
Sie diese beiden nicht haben wollen, dann stellen Sie sie doch vor ein Kriegsgericht. Sie
haben ja über Ihre Leute noch die volle Disziplinargewalt." Mace sah den Vorgang
anders: "Stein bat, ein Kriegsgericht abhalten zu dürfen. Mein Hauptquartier
genehmigte es."
Was Stein von Deserteuren überhaupt hält, vertraute er 20 Jahre später dem Stern an:
"Der Beck wäre doch niemals was Gutes für Deutschland geworden. Deserteure werden
auch im Zivilleben nur Verbrecher."
Wilhelm Köhn: Todesrichter war "sehr bedrückt" von der Exekution
Einen Tag nach der Einlieferung der beiden Deserteure erhielt Marineoberstabsrichter
Wilhelm Köhn vom deutschen Admiralsstab der Niederlande den Auftrag, den Vorsitz über
das Feldgericht zu führen, das Beck und Dörfer aburteilen sollte. Nach 15 Minuten
Verhandlung am Morgen, bei dem 3000 deutsche Soldaten und der kanadische Major Dennis
Pierce zusahen, wurden die Angeklagten zum Tode verurteilt. Beide Deserteure gaben zu,
fahnenflüchtig zu sein und mit der niederländischen Widerstandsbewegung
zusammengearbeitet zu haben.
Der deutsche Oberleutnant Frank Trmal, erinnert sich an Becks Verteidigung: "Beck
war alt genug, um sich selbst zu verteidigen. Er sagte dem Feldgericht, daß alle
Deutschen vor ein paar Wochen schon wußten, daß der Krieg vorüber und es besser sei, zu
kapitulieren. Er sagte dem Gericht und dem Kapitän, daß jedes weitere Kämpfen gegen die
Kanadier sinnloses Blutvergießen gewesen sei. Daraufhin sprang der Kapitän auf und
schrie Beck an, daß er uns alle, seine Kameraden und Offiziere, soeben ##kursiv anfang##
Mörder ##kursiv ende## genannt hätte. Das ist etwas, was ich niemals vergessen
werde."
Nach einer kurzen Diskussion sprach das Feldgericht das Todesurteil gegen Dörfer und
Beck aus.
Ende der sechziger Jahre wurde in dieser Sache gegen den zum Oberlandesgerichtsrat
aufgestiegenen Wilhelm Köhn ein Verfahren wegen des Verdachts auf Mord eingeleitet. In
einer Vernehmung sagte Köhn aus, daß er "selbstverständlich davon ausgegangen
[sei], daß es sich dabei lediglich um eine Verurteilung als solche handelt. So wie die
Dinge lagen, war eine Vollstreckung der Todesstrafe praktisch undenkbar. Wir hatten nicht
einmal mehr die erforderlichen Gewehre, und es erschien vollkommen ausgeschlossen, daß
die Kanadier, die uns selbst die zum Feinde übergelaufenen Fahnenflüchtigen ausgeliefert
hatten, die Vollstreckung eines Todesurteils anordnen und deren Durchführung organisieren
könnten." Und dementsprechend sei er dann auch sehr bedrückt gewesen, als er von
der Vollstreckung, nur wenige Stunden nach dem Schuldspruch, erfahren hatte.
Nach kanadischen Angaben sollen über ein halbes Dutzend deutscher Deserteure, die sich
in kanadischer Gefangenschaft befanden, auf diese Art verurteilt und hingerichtet worden
sein. Der Artikel 66 der Genfer Konvention von 1929 sieht bei einer Todesstrafe vor, daß
zwischen Urteil und Vollstreckung mindestens drei Monate liegen sollen. Aber der deutsche
Lagerkommandant Stein bestätigte das Urteil unmittelbar nach der Verkündung. Am späten
Vormittag traf daraufhin vom Stab der 2. kanadischen Infanteriebrigade die Bestätigung
des Urteils von kanadischen Seite ein. Major Pierce stellte sofort Gewehre, Munition,
Transportmittel und kanadische Begleiter für die Exekution bereit. Sieben Stunden nach
dem Schuldspruch wurden die Deserteure hingerichtet.
Karl-Heinz Lehmann: Kampf für die Rehabilitierung
21 Jahre nach dem Doppelmord stieß die Zentralnachweisstelle Kornelimünster beim
Aufarbeiten alter Wehrmachtsakten auf die von Stein unterzeichneten Todesurteile. Die noch
lebenden Schwestern von Rainer Beck wurden verständigt, die ihrerseits Strafanzeige gegen
unbekannt stellten. Die Ermittlungen konzentrierten sich auf Köhn, der daraufhin von
Dienst am Oberlandesgericht Köln suspendiert wurde. Das Verfahren wurde jedoch im Januar
1973 eingestellt.
Im November 1996 traf bei der Staatsanwaltschaft Köln in der Strafsache Rainer Beck
ein Wiederaufnahmeantrag ein. Aufgesetzt wurde er von Studenten der Evangelischen
Fachhochschule Hannover um Professor Karl-Heinz Lehmann. Unterstützung findet es auch bei
den Neffen Becks. Lehmann hatte sich bereits ein Jahr zuvor bei der Staatsanwaltschaft
Berlin erfolgreich für die Rehabilitierung des Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer
eingesetzt.
Den Antragstellern geht es nur um die juristische Rehabilitierung des Deserteurs. Daß
der Mord in keiner Weise wieder gutzumachen sei, ist ihnen klar. Aus diesem Blickwinkel
eröffnen sich einige interessante Einblicke in den Gerichtsfall Beck:
Das Feldgericht war zwar
am 13. Mai 1945 noch ermächtigt, nach deutschen Gesetzen Recht zu sprechen, aber seine
Strafgewalt war seit dem 5. Mai auf Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren eingeschränkt
worden. Damit hat Mordrichter Köhn ein Urteil gefällt, das er gar nicht mehr fällen
durfte.
Bei Fahnenflucht sah das
deutsche Militärstrafrecht Freiheitsstrafe oder Todesstrafe vor. Aber die Todesstrafe
stand zum Urteilszeitpunkt (eine Woche nach der Kapitulation) im unerträglichen
Mißverhältnis zur Tat.
Die Regeln der Genfer
Konvention wurden mißachtet.
Die Fahnenflucht war für
Beck, der wegen seiner "unarischen" Abstammung gar nicht in die Wehrmacht hätte
aufgenommen werden dürfen, die aus seiner Sicht einzige Möglichkeit, einer Entdeckung
und Einlieferung ins KZ zu entgehen.
Im Mai 1990 beschloß der Bundestag ein Gesetz, mit dem Unrechtsurteile aus der Zeit
des Nationalsozialismus aufgehoben werden können. Dieses Gesetz erfaßt aber nur Urteile
in Strafsachen, die zwischen dem 30. Januar 1930 und dem 8. Mai 1945 ergangen sind. Man
kann lange darüber spekulieren, ob die nach der deutschen Kapitulation ergangenen
Unrechtsurteile nur aus Versehen nicht mit berücksichtigt wurden oder ob der Gesetzgeber
bewußt auf die Rehabilitierung dieser Fälle verzichten wollte. Jedenfalls liegt das
Urteil gegen Dörfer und Beck nach dem Stichtag. Eine juristische Rehabilitierung kann nur
noch von einer Staatsanwaltschaft beantragt werden. Lehmann entschied sich, den
Wiederaufnahmeantrag an die Staatsanwaltschaft Köln zu richten, weil dort das Verfahren
gegen Wilhelm Köhn geführt wurde.
Paul Helley: "Die Ehre der kanadischen Armee wurde nicht befleckt"
Warum haben die Kanadier dem Todesurteil zugestimmt und sich an deren Vollstreckung
beteiligt? Als besonders pervers muß man dieses Vorgehen einschätzen, wenn man weiß,
daß gerade in den letzten Kriegsmonaten von den Allierten Aufrufe an die deutschen
Soldaten gingen, überzulaufen. Ganze Einheiten hatten sich mit der psychologischen
Kriegsführung beschäftigt und darauf hingewirkt, daß deutsche Soldaten verunsichert und
ungehorsam wurden.
Zum Ende des Krieges wurde die deutsche Wehrmacht wieder von den Westalliierten
gebraucht und die deutsche Militärführung mit Zugeständnissen (wie der der Zustimmung
zu den Todesurteilen im Fall Dörfer/Beck) bei Laune gehalten. Winston Churchill erklärte
1954 vor dem britischen Parlament, daß er direkt nach der Kapitulation die deutschen
Streitkräfte wiederbewaffnet hätte, wenn es zu einem Konflikt zwischen der Sowjetunion
und den Westalliierten gekommen wäre. Die gefangenen Deutschen waren für Churchill eine
Trumpfkarte im beginnenden Kalten Krieg.
Als die Ermordung von Dörfer und Beck Mitte der 60er Jahre in Kanada publik wurde,
wäre der kanadische Verteidigungsminister Paul Helley fast über diesen Vorfall
gestürzt. Nur scheibchenweise wurde die Öffentlichkeit informiert. Eine
Untersuchungskommission hielt er für unnötig. Dem Parlament erklärte er: "Ich bin
glücklich mitteilen zu können, daß die Ehre der kanadischen Armee [im Fall
Dörfer/Beck] nicht befleckt wurde."
Stephan Scholz