Abgehauen - Der unbekannte Deserteur

Warum haut jemand aus der Armee ab? Was treibt ihn dazu, oft unter Lebensgefahr oder mit der Angst im Nacken, für Jahre im Gefängnis zu verschwinden, zu desertieren oder erst gar nicht den Dienst anzutreten? tilt hat Interviews mit Deserteuren und Totalverweigerern aus verschiedenen Ländern geführt und zeigt, daß es viele Gründe geben kann, sich von einer Armee zu verabschieden.

 

Die Army hat ein langes Gedächtnis

Steve Wechsler desertierte 1952 aus der US-Army und landete in der DDR. Erst 1994 wurde er mit 66 Jahren offiziell aus der US-Army entlassen.

tilt: Du hast es Dir nicht leicht gemacht, als wir Dich um ein Interview baten.

Wechsler: Ich wußte nicht so recht, ob ich in Eure Zeitschrift passe. Ich bin ja vor allem desertiert, weil ich Angst vor Verfolgung in der McCarthy-Zeit hatte.

?: Du kommst aus New York. Wie war die Stadt in den dreißiger Jahren?

!: Da lebten schon damals 7 Millionen Menschen. New York war anders als heute zum größten Teil links und das hieß vor allem kommunistisch, sozialdemokratisch oder links-zionistisch. Ich bekam schon als Kind mit, was sich weltweit tat und das hat mich sehr geprägt: der Spanische Bürgerkrieg, die Interbrigadisten, Hitler in Deutschland, der in unseren Augen der Leibhaftige war. Es gab damals eine große Sympathie für die Sowjetunion, die uns als einzige antifaschistische Kraft erschien.

?: War Antifaschismus im weit entfernten Amerika nicht reichlich abstrakt?

!: Natürlich hatten wir in den dreißiger Jahren keinen direkten Kontakt mit den Nazis. Aber wir kannten ihren Rassismus und ihren Judenhaß. Weißt Du was es für uns für eine Genugtuung war, als unser schwarzer Boxer Joe Louis den Schmeling im zweiten Kampf besiegte? Der deutsche Herrenmensch verlor gegen den "schwarzen Untermenschen"! Und kannst Du Dir vorstellen, was es für mich bedeutete, daß jetzt in Berlin eine neue Sporthalle nach Schmeling heißt und die nach dem Antifaschisten Seelenbinder benannte Halle abgerissen wurde?

?: Hast Du etwas von der Gewerkschaftsbewegung in Deiner Jugend mitbekommen?

!: Aber sicher. Ich erinnere mich noch an den 40tägigen Sitzstreik bei General Motors, an den Kampf für die 40 Stundenwoche, für Sozial- und Arbeitslosenversicherung. Das waren große soziale Kämpfe, die unser ganzes Land umgekrempelt haben.

?: Wann bist Du zu den Kommunisten gestoßen?

!: Mit 14 auf der Highschool warb mich ein Freund für die Jungkommunisten-Liga. Die USA waren zu der Zeit auch im Krieg und wir waren verbündete der Sowjetunion gegen die Nazis. Besonders nach den Schlachten von Moskau und Stalingrad waren die Sowjets Helden und antisowjetisch bedeutete unpatriotisch zu sein.

?: Was hast Du nach der Highschool gemacht?

!: Ich bekam im Juli 1945 die Zulassung zur Harvard-Studium, glücklicherweise mit einem Stipendium. Eines Tages fragte mich ein guter Freund, ob ich nicht Mitglied der Kommunistischen Partei werden wolle: „Du bist doch ein Roter!". Erst hatte ich Bedenken, weil Kommunisten und Sowjetfreunde schon gleich nach dem Krieg wieder verteufelt wurden. Dann bezahlte ich doch meine 50 Cent Beitrittsgebühr. In Harvard bauten wir eine KP-Gruppe auf, die bis zu 35 Mitglieder hatte – lauter interessante und brillante Leute. Aus Angst blieb die Gruppe geheim.

Antimilitärische Engagement

?: Kurz nach Beginn Deines Harvard-Studiums warfen die USA die ersten Atombomben auf Japan. Hast Du die Bedeutung des Abwurfs verstanden?

!: Wir merkten zwar, daß in Japan etwas Schreckliches passiert war, aber richtig begriffen haben wir die Bedeutung der Bombe erst viel später. Wir haben dann u. a. Demos gegen den Atomkrieg organisiert. Die konservativen Kommilitonen versuchten dabei, unsere Schilder runterzureißen.

?: Hast Du nach dem Studium Arbeit gefunden?

!: Auf Wunsch der Partei wurde ich nach dem Studium Industriearbeiter, weil es zu wenig Kommunisten unter den Arbeitern gab. Bei meinen Bewerbungen verheimlichte ich, daß ich studiert hatte, damit nicht nach meiner politischen Einstellung geforscht wurde. Linke waren nicht willkommen. Ich arbeitete in Buffalo in zwei Fabriken, war in einer Parteigruppe für Schichtarbeiter tätig und verkaufte im Ghetto die Parteizeitung. Anders als die meisten Weißen waren die Schwarzen nicht antikommunistisch eingestellt. Im Juni 1950 begann der Koreakrieg und damit eine richtige Hetze gegen alles Linke. Eines Tages brannte sogar ein Kiosk, der unsere Zeitung führte. Ich befürchtete eine Einberufung in die Armee.

?: Gab es damals Wehrpflicht in den USA?

!: In der gesamten Geschichte der USA gab es die Wehrpflicht nur zu Kriegszeiten. 1948 wurde die Wehrpflicht dann trotzdem per Gesetz beschlossen. Dagegen haben wir demonstriert – mit drei Mann. Als Rechte zu pöbeln begannen, nahm die Polizei uns (!) fest. Ich saß zwei Stunden im Knast, wurde angeklagt, dann aber eine Zeit später vor Gericht freigesprochen. An einer weiteren Demonstration nach dem Verfahren nahmen schon 20 Leute und viel Presse teil. Offensichtlich bezahlte Typen habe uns mit Eiern und Tomaten beworfen, wogegen die Polizei natürlich nichts unternahm. Insgesamt stieß die Einführung der Wehrpflicht eher auf Desinteresse. Aufgrund des Gesetzes mußte ich dann zur Musterung. Genossen hatten mir geraten, den Ärzten zu erzählen, daß ich Bettnässer sei, um als untauglich eingestuft zu werden. Aber das habe ich nicht über mich gebracht.

grossman.jpg (13061 Byte) Victor Grossman (Foto: Stephan Scholz)

Amerikanischer Gewissens-TÜV

?: Wann wurdest Du dann einberufen?

!: Im Herbst 1950. Ich sollte im Januar für zwei Jahre zum Dienst antreten. Ich ging bis zum Termin nach New York zurück. Meine große Sorge war, wie ich mit dem Treueeid umgehen soll. Als Rekruten hatte man zu unterschreiben, daß man in ca. 120 namentlich aufgeführten Organisationen niemals Mitglied gewesen sei. Das waren fast alles linke Organisationen und ich war in einem Duzend von ihnen irgendwann einmal Mitglied gewesen.

?: Konntest Du nicht einfach schwindeln und den Wisch unterschreiben?

!: Es ging ja nicht nur um diesen Zettel, sondern auch um ein neues Gesetz, daß im Herbst 1950 erlassen wurde. In dem hieß es, daß sich „alle Mitglieder kommunistischer Organisationen sofort als ausländische Agenten" bei der Polizei zu melden hätten. Für jeden Tag, den man sich nicht meldete, wurden bis zu 10.000 Dollar Strafe oder 5 Jahre Gefängnis angedroht – für jeden Tag! Das Gesetz sah auch Lager für „Verdächtige" in „Notsituationen" vor. Übrigens hat auch der spätere Präsident Kennedy dem Gesetz zugestimmt.

?: Du hast Dich nicht gemeldet?

!: Natürlich nicht. Aber wenn ich dann bei der Army zugegeben hätte, daß ich Kommunist bin und in dieser und jener linken Organisation Mitglied, mußte ich befürchten, in einer gefährliche Lage zu geraten. Bei mir hätte sich womöglich schon eine Million Dollar Strafe oder zehn mal Lebenslänglich angesammelt. Unterschreibe ich den Treueeid aber und meine Lüge kommt raus, dann hätte ich ebenfalls mit eine Anklage rechnen müssen. Es war ein totales Dilemma und weil sowohl Gesetz als auch Treueeid relativ neu waren, konnte mir kein Genosse einen vernünftigen Rat geben.

?: Wie hast Du Dich entschieden?

!: Ich beschloß in meiner Panik zu lügen und unterschrieb den Treueeid. Anfangs ging bei der Army auch alles gut. Nach der Grundausbildung wurden die Schwachen nach Korea in rückwärtige Dienste versetzt, später dann doch an die Front geworfen. Wir Gesunden wurden nach Deutschland verfrachtet. Ich wollte auf keinen Fall auf Koreaner schießen und war nun natürlich froh, gar nicht erst in den Krieg ziehen zu müssen.

?: Was mußtest Du in Deutschland tun?

!: Ich wurde nach Bayern ins langweilige Bad Tölz versetzt. Nach Eignungstests hat man mich zum Funker ausgebildet. Erst wollte ich nicht, weil ich befürchtete, in eine Sicherheitsüberprüfung zu geraten. Aber eine Weigerung wäre auch verdächtig gewesen, weil die Ausbildung in München allgemein als sehr attraktiv galt. Nach der Ausbildung wurde ich merkwürdigerweise nicht als Funker eingesetzt sondern in ein Ersatzteillager für Autos abgeschoben.

Grüße vom Pentagon 

?: Und wie kam es zu Deiner Desertion?

!: Im August 1952, ich war bereits 18 Monate bei der Army, erhielt ich ein Einschreiben vom Pentagon. Es enthielt eine Liste aller linken Organisationen, in denen ich jemals Mitglied war und eine Anschuldigung, daß ich damit gegen meinen Treueeid verstoßen hätte. Nur meine KP-Mitgliedschaft hatten sie nicht aufgeführt. Eine Woche später sollte ich mich beim Militärgericht melden.

?: Warum wurdest Du nicht gleich verhaftet?

!: Keine Ahnung. Ich fand das Verhalten der Army auch völlig unbegreiflich. Auch meine Vorgesetzten schienen nichts gewußt zu haben. Ich hatte nun große Angst vor dem Gericht und was man mir alles unterschieben wollte. Ich fühlte mich verfolgt und beobachtet.

?: Hast Du versucht, von irgendwo Hilfe zu bekommen?

!: Ich hatte ja nur ein paar Tage Zeit. In den USA waren die Genossen mit sich selbst genug beschäftigt und wer sollte in der BRD einem GI in Uniform helfen, der erzählt, daß er Kommunist sei? Bei der Army kannte ich niemanden, dem ich vertrauen konnte. Die meisten GIs waren politisch uninteressiert. Ich sah nur den Weg, mich in den Osten abzusetzen.

?: Du hattest im Vorgspräch angedeutet, daß die DDR eigentlich nicht Dein Ziel war. Warum nicht?

!: Da wollte ich auf gar keinen Fall hin. In einer Militärzeitung hatte ich gelesen, daß es dort Lager gäbe für Deserteure der Westarmeen. Für mich war die DDR zwar das bessere Deutschland, eines ohne Nazis, aber trotzdem hatte ich von den Deutschen genug. Die Tschechoslowakei, Polen, Ungarn oder die Sowjetunion waren mir Recht, bloß nicht Ostdeutschland. Über Österreich, daß damals ebenfalls in vier Besatzungszonen aufgeteilt war, wollte ich zu den Sowjets gelangen. Als Fluchtort hatte ich mir Linz ausgesucht.

Die Flucht

?: Hattest Du Deine Flucht richtig geplant oder bist Du einfach auf gut Glück abgehauen?

!: Ich hatte mir einen gefälschten Urlaubsschein organisiert und wollte am Sonntag abhauen. In den Tagen zuvor hatte ich alle Briefe und Bücher vernichtet. Zivilkleidung hatte ich zwar, durfte sie aber weder in der BRD noch in Österreich tragen. Ich befürchtete, wenn die Kasernenwache Zivilsachen bei mir entdeckt, wäre meine Flucht sofort aufgeflogen. Deshalb riskierte ich es, in Armeeklamotten abzuhauen. Doch dann wurde ich überraschend zum Küchendienst am Sonntag eingeteilt. Da man so meine Abwesenheit Sonntag sofort bemerkt hätte, entschloß ich mich, schon Samstag abzuhauen

?: Wie bist Du nach Linz gekommen?

!: Mit dem Zug. Die Donau bildete bei Linz die Zonengrenze und auf der anderen Seite mußten die Sowjets sein. Allerdings war da auch noch eine kleine amerikanische Enklave. Nachts habe ich in Linz die Donau gesucht, immer mit der Angst im Rücken, von der Militärpolizei gefunden zu werden. Zwischendurch bin ich vor Erschöpfung eingeschlafen. Erst hielt ich einen kleinen Seitenarm für die Donau, bin dort durch und stand dann ein paar Meter weiter vor der richtigen Donau. Halb schwamm ich, halb ließ ich mich treiben, immer in der Hoffnung, nicht an dieser Enklave zu stranden.

?: Wie bist Du dann zu den Sowjets gekommen?

!: Ich dachte, auf der anderen Seite stehen sie gleich mit Panzer und Kalaschnikow. Aber da war niemand. Ich bin stundenlang barfuß und zerlumpt umhergeirrt, bis mich ein Polizist aufgriff. Auf der Gendarmerie erzählte ich, daß ich zur Kommandantura wolle und ein großer Blonder in Lederhose fuhr mich im Jeep dorthin. Ich dachte, daß sei schon ein Abgesandter der Sowjets und erzählte ihm gleich meine ganze Geschichte. Aus meinen Geheimdienstakten habe ich später erfahren, daß der Blonde, ein österreichischer Polizist, nichts Eiligeres zu tun hatte, als mich bei den Amerikanern zu verpfeifen.

?: Wie haben sich die Sowjets verhalten?

!: Ich wurde ausgefragt: Name, woher, wohin? Dann wurde ich nach Baden (bei Wien) zum sowjetischen Hauptquartier gefahren. Zwei Wochen verbrachte ich in einer Kellerzelle. Anfangs wollten die Sowjets wissen, wo ich die ersten Stunden nach meiner Flucht verbracht hätte und ob jemand für mich bürgen könnte. Als sie zufrieden waren, wurde ich neu eingekleidet und weggefahren. Ich habe mich nicht getraut zu fragen, wohin es ging. Schlimm war die Fahrt durch das geteilte Wien, weil ich immer Angst vor einer Verhaftung durch die Amerikaner hatte. Über die Tschechoslowakei ging es dann in die DDR nach Potsdam.

Ab heute heißt Du „Victor"

?: Konntest Du Dich dort frei bewegen?

!: Ich war in einer Art Villa untergebracht, allerdings unter Bewachung. Ich wollte mir einen Tarnnamen ausdenken, damit meine Verwandten in den USA nicht gefährdet und meine Spuren besser verwischt würden. Ein sowjetische Offizier schlug mir den Name Victor Grossman vor. Ich war nicht begeistert, aber ich hatte keinen besseren. Meine wahre Identität haben nicht einmal die DDR-Behörden erfahren, denen ich nach zwei Monaten übergeben wurde.

?: Was geschah dann?

!: Ich wurde nach Bautzen gebracht, aber natürlich nicht in den Knast. Bautzen war überschaubar und sehr weit von allen Westgrenzen entfernt. Dort lebte ständig eine Gruppe von 30 bis 40 ehemaligen Westsoldaten.

?: Was waren das für Deserteure?

!: Briten, Amerikaner, Iren, Franzosen, Afrikaner; viele sind aus persönlichen Motiven desertiert. Manche hatten etwas ausgefressen. Ich glaube, nur wenige waren aus politischen oder pazifistischen Gründen abgehauen. Ein paar Marokkaner z. B. wollten sich nicht im französischen Indochinakrieg verheizen lassen. Nach den Gründen haben wir uns untereinander nicht gefragt. Offensichtlich hatten die westlichen Geheimdienste einen Draht nach Bautzen, denn immer wieder gingen Deserteure, die nicht zurecht kamen, zurück den Westen.

?: Wovon hast Du dort gelebt?

!: Anfangs wohnten wir in einem Hotel, wo Unterkunft und drei Mahlzeiten frei waren. Es gab ein Taschengeld und Sonderrationen von den Sowjets. Wir durften den Kreis nur mit Genehmigung verlassen, aber sonst gab es keine Zwänge.

Ein Klubhaus für Deserteure 

?: Hat man Dir keine Arbeit zugewiesen?

!: Da ich als Ungelernter galt, schleppte ich für sechs Monate Holzbohlen im Waggonbau Bautzen. Danach wurde ich im Klubhaus beschäftigt, daß für die Freizeitbetreuung der Deserteure eingerichtet wurde. Unter anderem organisierte man für uns einen Berufsausbildungskurs. Die meisten hatten ja keinen richtigen Beruf. Ich lernte Dreher. Nach diesem Kurs durfte ich Journalistik in Leipzig studieren.

?: Wie hast Du den 17. Juni 1953 erlebt?

!: Ich war in Bautzen, wo es relativ ruhig blieb. Wir wußten natürlich von der schlechten Stimmung in der Bevölkerung, auch von den Normerhöhungen. Wie überall gab es eine Ausgangssperre.

?: Wie hast Du Dir Dein Leben in der DDR eingerichtet?

!: In Bautzen habe ich meine Frau kennengelernt. Sie ist mit mir nach Leipzig gezogen. Nach dem Studium gingen wir nach Berlin. Ich habe als Journalist für Zeitungen und für das Radio gearbeitet. Später bin ich freischaffend geworden, habe Bücher geschrieben und Vorträge gehalten. Davon konnte ich ganz gut, wenn auch bescheiden leben. Ich war wohl der erste Amerikaner, der Trabant fuhr.

?: Aber in Berlin gab es doch die offene Grenze. Hattest Du keine Angst, daß man Dich finden und nach Westberlin schleppen könnte?

!: Ja, besonders zum Anfang. Aber dann habe ich mich einigermaßen daran gewöhnt.

?: Über den Mauerbau mußt Du ja heilfroh gewesen sein.

!: Beruhigt schon, weil sich meine persönliche Sicherheit erhöhte, aber heilfroh ist wohl zuviel gesagt.

Im Visier der Geheimdienste

?: War die Staatssicherheit an Dir interessiert?

!: Sicherlich werden sie mich mitunter beobachtet haben. Sie haben auch probiert, über mich Kontakt in die Vereinigten Staaten zu erhalten. Aber ich konnte sie schnell davon überzeugen, daß ich ihnen nicht weiterhelfen kann. Ich zögere aber meine Akten einzusehen, denn mit den Gauck-Leuten habe ich wenig am Hut.

?: Hast Du zu DDR-Zeiten probiert, in die USA zurückzukehren?

!: Ich war ja immer noch Angehöriger der US-Army und Deserteur. Ich wäre vor Gericht gestellt worden. Dieses unglaubliche Gesetz, das mich zu meiner Einberufungszeit so sehr in Panik versetzt hatte, war in den 60er Jahren vom Obersten Gericht gekippt worden, aber Deserteur war ich immer noch. Hätte ich keine Angst vor einer Verurteilung haben müssen, wäre ich gern in die USA zurückgereist.

?: Hast Du keinen Anlauf gemacht, um die Sache zu klären?

!: Es war genau andersherum. Mitte der siebziger Jahre bekam ich Post von der USA-Botschaft. Obwohl mein richtiger Name nur den Sowjets und meiner Frau bekannt war, hatte die Botschaft einen Brief an meinen Verlag geschrieben, auf dem beide Namen angegeben waren. Ich sollte mich zur Klärung einer Staatsbürgerschaftsfrage in der Botschaft einfinden.

?: Das US-Militär konnte sich doch auch in Ostberlin frei bewegen. Die hätten Dich problemlos in einem Koffer nach Westberlin schleppen können.

!: Ich hatte einigen Leuten Bescheid gesagt, wo ich hin gehe. In der Botschaft versuchten mich der Konsul zur Rückkehr zu bewegen. Angeblich hätte ich keine harte Strafe zu befürchten. Das habe ich natürlich bezweifelt.

?: Ist dann nichts weiter passiert?

!: Ich bin ein paar Mal in der Botschaft gewesen. Ich wollte einen Anwalt in den USA beauftragen, dort zu erkunden, was gegen mich vorliegt. Aber er brauchte dazu eine beglaubigte Vollmacht auf meinen richtigen Namen. In der DDR konnte mir keine Behörde den alten Namen bestätigen, weil der in keiner Akte vermerkt war. Viel später, im Frühling 1989, nachdem ich meine Lebensgeschichte im Bulletin der Harvardabsolventen veröffentlicht hatte, wurde ich mit Besuchen und Briefen aus den USA überschwemmt. Ich fragte damals noch einmal in der US-Botschaft nach, ob ich jetzt unbeschadet in die USA reisen könne. Die Konsulin meinte nur: „Die Army hat ein langes Gedächtnis. Ich würde es nicht wagen."

Die Rückkehr 

?: Ein paar Monate später waren die Grenzen auf.

!: Nach der Vereinigung hatte ich wieder Angst vor der Strafverfolgung. Es passierte aber nichts. 1994 rief mich eine Rechtsanwältin an. Ich könne es nun wagen, in die USA zu reisen und ich sagte mir: „Jetzt oder nie!". Ich bin mit meiner Frau zum Konsulat in Berlin-Dahlem gefahren. Von einem Freund aus der Bautzener Zeit wußte ich, daß er von dort gleich in die USA gebracht wurde.

?: Dir ist dort aber nichts passiert?

!: Ich habe einen Hilfspaß für die Einreise erhalten. Mit meiner Frau bin ich nach New York geflogen. Als ich Long Island aus dem Flugzeug gesehen habe, ist mir richtig mulmig geworden. Auf dem Flughafen wurde ich von einigen Army-Leuten in Zivil empfangen und sofort an allen Formalitäten vorbei durchgelotst. Die haben mich dann gleich in eine Kaserne gebracht. Nach drei Stunden war ich aus der Army entlassen – 43 Jahren nach Dienstantritt.

?: Hat die Army nichts weiter von Dir gewollt?

!: Ich sollte etwas über andere Deserteure in der DDR erzählen. Später fragten sie mich auch über meine Leben in der DDR aus.

?: Bereust Du aus heutiger Sicht Deine Entscheidung zu desertieren?

!: Meine Mutter hat mich manchmal in der DDR besucht und einmal gesagt, daß es vielleicht für mich am Ende doch besser gewesen ist, daß ich im Osten gelandet sei. Wer weiß, was bei meiner politischen Arbeit in den USA aus mir geworden wäre. Viele meiner Freunde hatten ständigen Ärger mit der CIA oder dem FBI und wurden oft entlassen.

?: Bist Du den Sowjets noch gram, daß sie Dich in die DDR gebracht haben?

!: Ich habe mich oft über vieles in diesem kleinen Land geärgert, aber für mich war es doch das bessere Deutschland. Ich glaube, ich hatte es hier ganz gut getroffen.

?: Was hast Du in der Zukunft vor?

!: Ich will aus meiner Geschichte ein Buch zu machen. Und natürlich will ich meine Akten bei den US-Geheimdiensten einsehen. Ein paar hat man mir schon gegeben, aber der große Rest liegt noch in den Geheimdienstarchiven. Vor allem will ich bei meinen Prinzipien bleiben und weiterhin für eine bessere, sozial-gerechte Welt kämpfen.

tilt dankt Steven Wechsler, alias Victor Grossman, für das Gespräch.

Das Interview führte Stephan Scholz