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IDK-Buchtip:

Anarchismus

Herausforderungen und Perspektiven
zur Jahrtausendwende

Der Verlag Graswurzelrevolution hat sich mit diesem Buchtitel eine große Aufgabe gestellt – genauer geht es hier um die Verbindung von Gewaltfreiheit und Anarchismus.

Es ist ein nüchternes und ermutigendes Buch zum Beginn des neuen Jahrtausends. Die versammelten Texte leisten einen Beitrag zur Frage der Aktualität und notwendigen Erneuerung libertärer und insbesondere gewaltfrei-anarchistischer Theorie und Praxis. Nicht ohne Stolz wird auf die einflußreiche Bedeutung des gewaltfreien Anarchismus seit Anfang der siebziger Jahre innerhalb der neuen sozialen Bewegungen hingewiesen. Aber: dennoch müssen die anarchistischen Analysen und Lösungskonzepte sich den gegenwärigen Herausforderungen stellen.

Libertäre Theoriedefizite sollen aufgearbeitet werden, um Perspektiven entwickeln zu können – auch für Nicht-Anarchisten/innen eine empfehlenswerte Lektüre.

Ethische und moralische Kategorien werden unterschiedlich thematisiert; z.B. Freiheit und Verantwortung des Einzelnen mit dem Ziel einer herrschaftslosen Gesellschaft. Welche Lehren ziehen Libertäre aus dem Holocaust?

"Der Holocaust hat uns gezeigt, wie schnell Menschen, die man in eine Situation zwingt, in der es keine gute Entscheidung mehr gibt, oder in der der Preis für gute Entscheidungen unendlich hoch ist, die Frage moralischer Verpflichtungen verdrängen oder gar nicht erst stellen und sich statt dessen ganz dem Gebot des rationalen Interesses und der Selbsterhaltung unterwerfen. In jedem System, in dem Rationalität und Ethik in entgegegesetzte Richtungen weisen, bleibt die Humanität auf der Strecke." (Zygmunt Bauman)

Es wird die Frage diskutiert, ob der Holocaust ein "Betriebsunfall" der Moderne sei oder ein naheliegendes Ergebnis der modernen, d.h. rationalen und institutionalisierten Gesellschaftsordnung ist. Die Antworten mit der Problemanalyse im Buchbeitrag weisen die Richtung: Der Holocaust war nicht das Chaos, sondern die totale Ordnung. Wenn das alltägliche soziale Leben gegenüber der erstarkenden Ordnung an Kraft verliert nimmt die Gefahr zu, daß es zu Massakern und planmäßiger Vernichtung kommt.

Diese historische Diskussion gewinnt an Bedeutung, wenn wir heute feststellen, daß die Herrschaft sich auf allen Ebenen modernisiert: Der Kapitalismus startet durch und betreibt ein Rollback sozialer Absicherung, das Patriarchat propagiert den Backlash, Nationalismus und Rassismus scheinen ebenso wie Militäreinsätze der Weltmacht Deutschland von der Bevölkerungsmehrheit als neue Normalität akzeptiert zu werden.

Namhafte Historiker sprachen vom Niedergang des Nationalismus; nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus wurde ein grenzübergreifender Friede erhofft ... das Gegenteil war der Fall ...!
1999 zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich deutsches Militär aktiv an einem Krieg gegen ein anderes Land beteiligt.
1997 beteiligten sich 500.000 Promise Keepers, Ehemänner am Million Men-March des Antisemiten und Führers der Nation of Islam zum Lincoln-Memorial in Washington/USA. Was für ein Unterschied zur Massenbewegung der emanzipativen Schwarzenbewegung von Martin Luther King, die 1963 an gleicher Stelle den Traum einer antirassistischen Gesellschaft formulierte. (ein symbolischer Ausschnitt der Realität der neunziger Jahre)
Die Mentalität, das ganze Verhalten auf eine durchkapitalisierte und durchbürokratisierte persönliche Gewinn- und Verlustrechnung einzustellen, macht auch vor persönlichen Beziehungen nicht halt. Was früher der Befehl von außen war, nämlich die Voraussetzung für Gewaltanwendung, ist heute durch das bürokratisierte, patriarchale Ich ersetzt worden. Antisexistische Männerforscher kritisieren die neue hegemoniale Männlichkeit mit ihren Attributen Aggression und Konkurrenzkampf – Eigenschaften, die auch eine moderne metropolitane Kriegsführung braucht.

Anarchistische Politik-Kritik und eigenen Ansprüchen auf die Spur kommen, eigenes Scheitern immer wieder zu verarbeiten, ohne zu resignieren – das ist Sisyphos: "Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen denken", schreibt Albert Camus. Allerdings ist vielen Menschen diese Vorstellung von Glück unzugänglich ...

Tatsächlich ist für den Anfang nicht viel mehr gefordert als ernsthaftes Bemühen und die Einsicht, daß die Gemeinschaft das ist, was jeder Einzelne daraus macht. Hier steht die persönliche Entscheidung.

Wolfram Beyer

Gewaltfreier Anarchismus: Herausforderungen und Perspektiven zur Jahrhundertwende; Herausgeber: Graswurzelrevolution (Heidelberg), Verlag Graswurzelrevolution 1999, 203 Seiten, 29,80 DM

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