Für die einen ist es Hochwasserschutz. Für die Bundeswehr ist es das größte Manöver ihres Bestehens. Insgesamt 30 000 deutsche Soldaten rackerten wochenlang gegen die Fluten der Oder und für das Ansehen der Streitkräfte. Nie war die Bundeswehr so beliebt wie in diesem Sommer entlang der Oder-Neiße-Linie. Ohne Waffen und ohne Werbe-Millionen gelang ihr ein Feldzug gegen das Wasser und das ramponierte Image.
Plötzlich reden alle vom Kampf. Worte wie "Verteidigungslinie", "Rückzug", "Gefechtspause", "Truppenstärke" kommen selbst denen leicht über die Lippen, denen Militärisches an sich ein Greuel ist. Wochenlang sind Straßencafés und Shopping-Meilen in den Städten des Oderlandes fest in der Hand der Bundeswehr. Sogar bei McDonalds lümmeln sich die Jungs kompanieweise in ihren buntgescheckten Arbeitsanzügen. Was ist geschehen?
Das "Jahrhunderthochwasser" ist über Deutschland gekommen, und in Ermangelung anderer Katastrophentruppen rückte die Bundeswehr nach Osten vor. Endlich durfte sie mal so richtig. Sie tat es gern. Und wie: Panzergrenadiere schippten bis zum Umfallen, Telekommunikationskommandos zogen die Strippen im Hinterland, Küchenbullen kochten Klöße am klammen Deich. In Frankfurt haben die uniformierten Flut-Gewaltigen ihr Oberkommando installiert, von hier werden die an den Deich befohlenen Truppen dirigiert. Hektisch wieseln schwitzende Leutnants zwischen Territorialkarte und olivgrünem Telefon umher, brüllen Befehle ins Handy. "Das ist wie in der Gefechtssituation", sagt Hauptmann Joachim Horstmann stolz. "Alle Abläufe gleichen denen im Krieg." Oberbefehlshaber Oberst Karl-Christoph von Stünzner zeigt sich begeistert davon, wie "hervorragend" es doch klappt mit der zivil-militärischen Zusammenarbeit in der Region. "So eine schöne Übung hatten wir noch nie", grinst er, während Untergebene mit neuen Nadeln einen Deichriß auf der riesigen Oder-Karte markieren. Im Flut hängt, ebenso groß, eine Karte von der Schlacht bei Auerstedt. "Der Oberst", flüstert sein Hauptmann, "ist ein großer Fan vom Alten Fritz."
Der hat der Bundeswehr vor 250 Jahren vorgemacht, wie man die Oder besiegt und sich damit treue Anhänger verschafft: Friedrich der Große ließ den Sumpf zwischen Hohenwutzen und Frankfurt trockenlegen und besiedeln, die Oder nach Osten verlegen, schuf damit, wie er sagte, "für Preußen eine neue Provinz ganz ohne Krieg". Dem Fritzen dankens die bäuerlichen Oderbrücher schon lange mit militärischen Nostalgievereinen und Büsten auf den Dorfplätzen. Den Soldaten von heute veranstalten sie Lebewohl-Feten, Dankgottesdienste, gründen Truppen-Patenschaften und lassen Brautpaare im Armee-Lkw zur Kirche chauffieren. Oder widmen ihnen wie im Nest XXX sogar eine "Straße der Panzergrenadiere". Einig sind sich alle: Ohne die Bundeswehr wäre der Deich von Hohenwutzen geborsten und das tiefergelegte Oderbruch wie eine Badewanne vollgelaufen.
Und ohne Grundwehrdienstleistende wäre der Oder-Einsatz der Truppe nicht möglich gewesen. Behauptet Verteidigungsminister Volker Rühe, dem das Hochwasser willkommene Bonus-Argumente in der Sommerloch-Debatte um die Abschaffung der Wehrpflicht lieferte. Und die Leute an der Oder nicken: "Klasse Arbeit gemacht, Jungs." Schulterklopfen überall. Tatsächlich wurden den Rekruten am Deich in Hohenwutzen Kämpfen bis zum Umfallen befohlen, und ohne die militärisch flexible Verfügbarkeit über Mensch und Material wäre die viel zu spät begonnene Sicherung der Deiche nicht letztlich erfolgreich verlaufen. Doch warum nicht auch 30 000 Berufssoldaten das Gleiche hätten tun können, erklärte indes niemand. Während 18jährige Frisch-Rekruten gleich zum Schuften an die Oder geschickt wurden, schoben weit mehr als 100 000 Berufs-Militärs die ruhige Kugel an der Heimatfront.
Und heimsen dafür auch noch mehr Lob ein als Umweltämter und Kreisbehörden oder die Tausende freiwilligen Helfer von Feuerwehr und Technischem Hilfswerk (THW), die als eigentlich Zuständige vor Ort waren. Anders als die Militärs fielen sie kaum durch selbstherrliches Auftreten in den Dörfern und unnötige Zerstörungen beim Schaufeln, Baggern und Schippen auf. Statt Lob und Lametta bekamen sie oft Zoff mit ihren Arbeitgebern, steckten Freizeit und privates Geld in den Einsatz.
Geld spielt bei der Bundeswehr indes keine Rolle. "Der Einsatz ist selbstverständlich kostenlos für das Land Brandenburg", beeilte sich Verteidigungsminister Volker Rühe schon zu Beginn der Flut zu erklären. Denn das bettelarme Bundesland hätte die Rechnung für die starke Truppe nie und nimmer zahlen können. Wie hoch die ausgefallen wäre? Darüber spricht man nicht gern. Vorsichtigen Schätzungen zufolge soll der Einsatz um die mehr als 50 Millionen Mark gekostet haben. Mehr immerhin als die jüngste Marketing-Kampagne der Hardthöhe. Aber gewiß sehr gut angelegt.
Denn in einer derart kritiklosen Zone durfte die Bundeswehr noch nie agieren. Während die Hardthöhe sonst gerne über das armeefeindliche gesellschaftliche Klima jammert, erntete sie an der Oder nur Begeisterung. Die örtliche "Märkische Oderzeitung" produzierte Sonderausgaben als "bw-Einsatzreport", verteilte sie gratis an die Rekruten, die dafür auch mal gerne kurz ihre Bild-Zeitung beiseite legten. General Hans-Peter von Kirchbach wird als "Retter von Hohenwutzen" gefeiert. Tatsächlich stand der Ober-Boß noch am gefährdeten Deich, als seine Jungs schon wegen Bruchgefahr das Weite suchten. Aber: Wenn alles mit rechten Dingen zuging, fielen die wichtigen Entscheidungen in den zivilen Verwaltungen und nicht in den militärischen Befehlsständen. Denn Katastrophenschutz ist Sache der Länder und Kreise, und die Bundeswehr agierte an der Oder ohne eigene Hoheitsrechte, quasi auf Bestellung.
Daß da manch Katastrophen-Bürokrat auf die Kampfes-Kenntnis der Uniformierten setzte, pfeifen die Spatzen von den im Wasser versunkenen Dächern. Manöverkritik jedenfalls gabs nicht. Dabei wunderten sich manche, warum die Ziltendorfer Niederung südlich von Frankfurt so schnell aufgegeben wurde, nachdem der Deich das erste Mal barst. Hinter vorgehaltener Hand erzählt man sich, daß die Befehlshaber wenig Interesse an dem riskanten Einsatz in der Niederung hatten das Risiko einer medienwirksam erlittenen Niederlage war zu groß. So mögen die Militärstrategen froh gewesen sein, als sie die Ziltendorfer Gegend der Flut überlassen und nach Norden ziehen konnten. Mit dem "Sieg von Hohenwutzen" konnten sie sich selber viel besser feiern.
Nach den Jubelfeiern werden sich die Vordenker auf der Hardthöhe schnell an die Überarbeitung ihres Militär-Konzeptes machen. Während die Generäle Bundeswehr-Jobs wie "Krisenintervention" und "Weltmarktsicherung" nach 1989 erst mühsam hinzuerfinden mußten, wird ihnen die neue Aufgabe geradezu aufgedrängt. 84 Prozent der Bundesbürger die Bundeswehrsoldaten bei Katastropheneinsätzen sehen, ergab eine Emnid-Umfrage. Neben ein paar zusätzlichen Schlauchbooten und Sandsack-Füllautomaten mehr wird da sicher die eine oder andere Milliarde für den Militärhaushalt herausgeschlagen werden können. Auf den Einfall, die Knete gleich den Profis vom Katastrophenschutz zu geben und den zu entmilitarisieren, wird kein Bundeswehr-Oberer kommen. Bestimmt viel mehr wird ihn eine Frage am Rande interessieren: Wer putzt eigentlich die Waffen in der Kaserne, wenn deren eigentlicher Träger am Deich mit bloßen Händen kämpft?
Karl Schwanzens
Dieser Text wurde der tilt-Ausgabe 3/97 entnommen.