Die USA haben angst: War bis vor kurzem der totale Vernichtungskrieg noch ein Privileg des exklusiven Klubs der Supermächte, könnten neuerdings auch »regionale Aggressoren, drittklassige Armeen, terroristische Gruppen oder religiöse Fanatiker« (Cohen) mit Massenvernichtungswaffen um sich werfen. Gerade die Produktion von Chemie- und Biowaffen ist derart simpel und billig, daß es nicht mehr des Potentials einer Supermacht bedarf, um millionenfachen Tod zu säen. Schon impft die US-Armee ihre Soldaten gegen Milzbrand, der zur Zeit gefürchtetsten Biowaffe. Ein Reagenzglas davon, innerhalb weniger Tage mit einfachster Technik hergestellt, reicht aus, um Abermillionen von Menschen umzubringen. Ein Tropfen, so groß wie der aus einem Parfümzerstäuber, wäre tödlich für jeden Menschen. Fünf Jahre nach dem Golfkrieg gab der Irak zu, 9000 Liter von dem Zeug besessen zu haben; es sei inzwischen vernichtet.
Auf dem Chemiewaffensektor ist gerade VX-Gas der große Renner. Der Irak verfügte während des Golfkrieges über Substanzen, die die Herstellung von 500 Tonnen des Nervengifts erlaubt hätten. Scud-Raketen, um das Zeug in die Luft zu blasen, hätte das irakische Militär auch gehabt. Der Iran betreibt derzeit ein eigenes Entwicklungsprogramm für Raketen mit einer Reichweite von bis zu 2000 Kilometern, möchte Langstreckenraketen aus Nordkorea kaufen und hat bereits ein Bunkersystem für deren Stationierung in Arbeit.
Die USA rüsten dagegen. Mit bodengestützten Abfangraketen kann man gegen ABC-Waffen nichts ausrichten. Statt dessen sind flugzeuggestützte Laser in der Entwicklung, um die Schreckensraketen schon während ihrer Startphase abfangen zu können. Eine andere, effizientere Methode gegen Bio- und Chemiewaffen ist die Zerstörung ihrer Produktionsstätten: Raketen, die Chemie- und Biowaffenfabriken zerstören können, werden zur Zeit entwickelt. Sie bohren sich tief in den Boden, bevor sie explodieren, und erzeugen bei der Detonation so hohe Temperaturen, daß die Gifte sofort verbrennen. Aber da man Probleme mit der hochgezüchteten Technik hat, denkt man in den USA darüber nach, auch Atomwaffen gegen solche Ziele einzusetzen.
Und die gibt es genug. Russen und Chinesen hatten dem Iran bis vor kurzem Entwicklungshilfe in Sachen Massenvernichtungswaffen gegeben. Kürzlich war ein iranischer Diplomat in Moskau des Landes verwiesen worden, weil er versucht hatte, russische Raketen-Blaupausen zu kaufen. ABC-Waffen und geeignete Trägersysteme hatte er sich aber schon vorher besorgen können. Die gibt's nämlich momentan in der einstigen Supermacht zum Sonderangebot. Inzwischen scheint Washington aber Chinesen und Russen davon überzeugt zu haben, daß sie mit der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen ihre eigene, wenn auch dürftige Vormachtstellung gefährden. Und da sind die Machthaber einig: Geteilte Massenvernichtung ist halbe Massenvernichtung.
Thomas Schüsslin
Dieser Text wurde der tilt-Ausgabe 1/98 entnommen.