Was ist nur aus den Zivis geworden? Streikwütig, friedenskampflustig, politisiert bis in die Haarspitzen waren sie einmal. Tapfer fochten sie wie ein Mann gegen das böse BAZ, die Bundeswehr, die Militarisierung der Gesellschaft, gegen Wehrpflicht und den Zivildienst selbst. Damit hat es sich nun: Gesellschaftlicher Protest gegen den Zivildienst ist heute bestenfalls noch mit dem Mikroskop zu erkennen - obwohl sich am Zividienst selbst kaum etwas geändert hat.
tilt setzt das Mikroskop an und berichtet live aus einer Zivildienststelle. Wir nehmen uns Zivi-Organisationen ganz unten unter die Lupe, riskieren einen Blick mit dem Fernrohr über die Landesgrenzen und betrachten den Zivildienst im europäischen Ausland. Zum guten Schluß setzen wir die Lesebrille auf und testen Zivi-Ratgeber.
Früher. Früher war alles besser. Früher gab es noch ein richtiges Verfahren, wenn man ein richtiger Kriegsdienstverweigerer sein wollte. Ein Verfahren, in dem der KDVer in spe Fragen gestellt bekam wie "Stelln Se sich mal vor, sie gehn spaziern mit Ihrer Freundin nachts im Park, plötzlich kommt ne Horde Russen, schwerbewaffnet und betrunken, machen sich an ihre Freundin ran. Sie haben ne Empi dabei. Na, was machen Sie?" Aus solchen Verfahren ging man als gefestigter Kriegsdienstverweigerer hervor, und wurde folgerichtig auch ein richtiger Zivildienstleistender, einer, der dem Staat mißtraute, der in so in die Gewissens-Mangel genommen hatte. Einer, der bereits Kontakt mit KDV-Organisationen gehabt hatte, weil man ohne Beratung sowieso nicht durch die Gewissensprüfung kam. Und diesen Kontakt auch aufrechterhielt; im Idealfall. Und vielleicht sogar in einer solchen Organisation mitarbeitete.
Fast 100 Basisgruppen hatte die Selbstorganisation der Zivildienstleistenden noch vor zehn Jahren. Knapp 100 Gruppen von Menschen, die sich über die menschenunwürdigen Verhältnisse im Zivildienst, über die militärische Verplanung der Zivis im Kriegsfall, über die Rolle des Zivildienstes als Jobkiller, die Verlängerung des Dienstes und die Wehrpflicht sowieso aufregten. 1988 kamen gut 500 Menschen zu einem Kongreß "Kriegsdienste verweigern" nach Frankfurt. 1983 streikten gar 12 000 Zivis gegen die Verlängerung ihres Dienstes.
Und heute: Heute gibt es zwar viel mehr KDVer und folgerichtig viel mehr Zivildienstleistende als damals. Aufregen aber tut sich keiner mehr. Die Zahl der SO-Basisgruppen ist auf ein gutes Dutzend zurückgegangen, Bundestreffen der Organisation finden mangels Masse schon gar nicht mehr statt, die Arbeitskreise der SO haben sich in Wohlgefallen aufgelöst und an einen Kongreß oder einen Streik, dessen Teilnehmerzahl über ein paar Dutzend hinausgeht, ist eigentlich kaum noch zu denken.
Das Problem einer einzelnen Organisation? Kaum. KDV und Zivildienst verbinden sich heute nicht mehr politischem Impetus. Schon 1994 zeigte eine Studie der Uni Paderborn: Zivis sind keine Protestler mehr. Sie verstehn sich nicht als Kriegsdienstverweigerer, sondern möchten als normale Mitarbeiter gesehen werden, und ihren Dienst nicht als Zwangsarbeit: "Ich halte den Zivildienst für eine gute und wichtige Einrichtung für unsere Gesellschaft", meinte einer der Befragten. Man sieht sich nicht mehr Kriegsdienstverweigerer, der Zivildienst leisten (muß), sondern als Zivildienstleistender, der den Kriegsdienst verweigern (muß), um Zivildienst leisten zu können. Von Gegenbewegung kann keine Rede mehr sein. Eigentlich logisch: Je mehr Zivildienstleistende es gibt, um so nivellierter müssen auch ihre Meinungen sein.
An die längere Dauer des Zivildienstes hat man sich gewöhnt, während der kurzen Dienstzeit (sie ist fast nur noch halb so lang wie ehedem) ist weder eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zivildienst noch der Aufbau einer Selbstorganisation möglich. Verplant im Kriegsfall? Was für'n Kriegsfall? Jobkilling? Die meisten sind froh, in ihrem Leben mal irgendwas sinnvolles tun zu können. Gewissensprüfung? Es gibt ja Muster-Verweigerungen. Nur über die Tatsache, das der Zivildienst ein Zwangsdienst ist, über die Wehrpflicht also, wird auch heute noch ausgiebig diskutiert. Aber beileibe nicht von den Zivildienstleistenden selbst, sondern von Politikern und Organisationen. Längst gibt es Lager, die eher die totale Kriegsdienstverweigerung oder die Wehrdienstvermeidung predigen denn eine KDV nach 4/3 - mit zweifelhaftem Erfolg, indes.
Die KDVer nach 4/3 stellen nach wie vor das ultra-überwältigende Gros derer, die nicht zum Bund wollen. Irrsinns-Zahlen von KDVern, die wir noch vor ein paar Jahren nicht für möglich gehalten hätten, geisterten in Zusammenhang mit Golfkrieg und Bundeswehr-Einsätzen in Ex-Jugoslawien durch den Raum. 150 000 und mehr junge Menschen verweigerten pro Jahr, zweitweise hielten sich die Zahl von Rekruten und KDVern pro Jahrgang sogar die Waage.
So recht darüber freuen konnte man sich nie. Diese Hundertausende von jungen Männern wollen nicht unbedingt ihrer pazifistischen Gesinnung Ausdruck geben, dem Staat ein auswischen oder künftige Kriege unter Beteilung der Bundesrepublik mangels Masse unführbar machen. Sie wollten vor allem Zivildienst leisten, statt zur Bundeswehr zu gehen. Und taten damit dem Staat einen riesigen Gefallen, weil ohne sie ihm und vor allem den Wohlfahrtsverbänden ein billiges Sozialsystem bescherte. tilt hat zwar schon mehrfach vorgerechnet, daß der Ausstieg aus dem Zivildienst gesamtgesellschaftlich gesehen ein Nullsummenspiel ist, sich also volkswirtschaftlich die Kosten und der Nutzen des Zivildienstes etwa die Waage halten. Aber hindert offenkundig niemanden daran, der Wehrpflicht das Wort zu reden, um die vermeindlich wohlfeilen Billigarbeitskräften aus dem Dienstpflichten-Reservoir zu erhalten
Als im vergangenen Jahr "nur" 127 331 Zivis ihren Dienst antraten und die Zahl der KDVer-Zahl zeitweise um 20 Prozent, sank mußte Bundeszivildienstbeauftragter Dieter Hackler eilig der besorgten Bevölkerung erklären: "Auch in Zukunft wird es bis zu 130 000 Zivis pro Jahr geben."
Wie diese Zukunft reicht, ist eine spannende Frage. Momentan tobt wieder eine Wehrpflicht-Debatte durch die Republik, die den gemeinen Zivi schneller zur bedrohten Spezis machen könnte, als es den Wohlfahrskonzernen, den wirklichen Profiteuren des Zivildienstes, lieb sein kann.
Vielleicht stehen wir schon nach der nächsten Bundestagswahl Besen bei Fuß und verabschieden den letzten Zivi aus der Bundesarbeitsdienst-Armee. Ehrenhaft, aber ohne auch nur eine einzige Träne im Augenwinkel.
Johannes Heinrich Guthschink
Dieser Text wurde der tilt-Ausgabe 3/97 entnommen.