tilt - Wehrpflicht, Zwangsdienste, Militär

 

Der Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer (FWTV)

Gegen die durch die SED kurz nach dem Mauerbau wieder eingeführte Wehrpflicht gab es seit Anfang an Widerstand mittels Totalverweigerungen. Dies hielt auch nach Einführung des Bausoldatengesetzes (1964) an, das für religiös Motivierte einen waffenlosen Militärdienst vorsah – was in keiner Hinsicht eine Alternative darstellte.

Seit Ende der Siebziger Jahre wurde zunehmend von unangepaßten Jugendlichen nicht nur die Armee, sondern auch die Institution Zwangsdienst in Frage gestellt. Die Motivationen waren christlich, ethisch-humanistisch bis anarchistisch-libertär begründet. Laut Gesetz konnte eine fünfjährige Haftstrafe verhängt werden, wenn man seiner Einberufung zur NVA nicht Folge leistete. Zwei Jahre Haft waren die Regel und neun Monate, wenn man den   Reservedienst verweigerte. In manchen Fällen wurden zusätzliche politische Strafrechtsparagraphen herangezogen, um das Strafmaß zu erhöhen. Dazu kamen ein unausgesprochenes Bildungsverbot und Stasiüberwachung.

Nachdem im Herbst 1985 ca. 70 Totalverweigerer verhaftet worden waren, deren Einberufungsbefehle nach Protesten aber wieder zurückgezogen wurden, gründete sich 1986 der Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer. Diese regional gegliederte, ungenehmigte Vereinigung stellte eine solidarische Notgemeinschaft dar (Partner und Frauen waren einbezogen) und forderte in seiner Basiserklärung zugleich öffentlich die Entmilitarisierung der Gesellschaft. Überwiegend waren es Sozialdiakone, die sich hier engagierten. Zwei der Akteure (Rainer Roepke und Michael Frenzel) waren bereits inhaftiert, aber auch Reservedienstverweigerer schlossen sich an. Ausreiseantragsteller waren kaum vertreten. Obwohl Versammlungsräume nur in Kirchen zu finden waren (z. B. in der Berliner Samaritergemeinde), gab es keine explizite kirchliche Anbindung.

Aktivitäten

Im Vordergrund standen Gespräche innerhalb der Gruppe, die Beratung und Begleitung Wehrpflichtiger bei der Entscheidungsfindung und die Vernetzung mit anderen Gruppen sowie die transnationale Zusammenarbeit. Es wurden persönliche Friedensverträge mit Totalverweigereren in anderen Ländern, zum Beispiel in der BRD, geschlossen. Dabei wurde die kirchlichen Halböffentlichkeit genutzt (z. B. die Fürbittgottesdienste "Beten für das Leben" jeweils nach Einberufungsterminen, Friedenswerkstätten, Denk-Mal "Dem unbekannten Deserteur"). Bezüglich dortiger Totalverweigererverfahren wurden Briefe an bundesdeutsche Gerichte gesandt, die auch manchmal von Richtern verlesen wurden.

Öffentlichkeitsarbeit und Publikationen

Blauer Pin Basiserklärung (7.11.87)
Blauer Pin ZIED (k)ein Schritt zur Entmilitarisierung 1988
Blauer Pin Unterzeichnung der Internationalen Erklärung gegen die Wehrpflicht (1.5.88)
Blauer Pin Woran Du denken solltest, wenn Du den Wehrdienst verweigern willst! (1988)
Blauer Pin Desertion 1933-45
Blauer Pin Zeitschrift Sag Nein! ab 1988
Blauer Pin Ersatzdienst ist Kriegsvorbereitung (18.1.1990)
Blauer Pin Friedenserklärung 1990
Blauer Pin Denk-Mal "Dem unbekannten Deserteur"

Das Denk-Mal "Dem unbekannten Deserteur" ist eine von ost- und westdeutschen Totalverweigerern erschaffene Plastik zur Friedenswerkstatt 1988 (Erlöserkirche). Umsetzung am 8. Mai 1989 vor die Samariterkirche. Zweite Umsetzung am 8. Mai 1993 ins Heinrich-Grüber-Zentrum Hohenschönhausen.

Die Wendezeit 1989/90

Aus dem entwickelten Vertrauen zueinander erwuchsen gemeinsame Aktionen auch in anderen Politikfeldern, besonders 1989.

Überregionale Treffen fanden 1988 in Schmöckwitz und im Mai 1989 in Kirchmöser statt. In Kirchmösern waren auch KDVer aus Spanien und aus der Bundesrepublik anwesend. Bei einem dieser Treffen wurde die Frage diskutiert: "Wollen wir die Abschaffung der Wehrpflicht oder die der Armee fordern?" Jemand warf ein: "Fordern wir doch gleich die Abschaffung der DDR!" Wenigstens letzteres Ziel wurde erreicht. Natürlich wäre ohne DDR-Abschaffung nicht einmal der Zivildienst eingeführt worden. Doch noch bestehen Armee und Wehrpflicht fort.

Nach der Entmachtung der SED wurde 1990 ein Zivildienstgesetz verabschiedet. Erneut wies der FWTV auf die damit verbundenen Probleme hin (Ersatzdienst ist Kriegsvorbereitung). Immerhin konnten die Aktivitäten des FWTV nun offener geschehen (u. a. regelmäßige Beratungstermine, Demonstrationen, Presseveröffentlichungen, eigene Publikationen). Aktionen zum "Tag der Abschaffung der Wehrpflicht", dem Internationaler Tag der Kriegsdienstverweigerer, zu Vereidigungen und auch zur Bustour 1991 mit dem Omnibus für direkte Demokratie fanden ein reges Medienecho.

Der Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer löste sich im Sommer 1991 quasi aus Altersgründen auf. Letzte Regionalgruppen existierten in Dresden und Potsdam, die sich jetzt aber "Totalverweigerergruppe" nennen. Was machen ehemalige Totalverweigerer aus der DDR heute? Überwiegend arbeiten sie in sozialen Berufen (Jugend- und Sozialarbeit), sind manchmal Stadtrat, Rechtspfleger, Bauwagenbewohner oder Bundestagsabgeordnete.

Das letzte verfolgte Mitglied des Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer, Volker Wiedersberg (Potsdam), strebte bei seinem Verfahren an, die (Un-)Rechtmäßigkeit der Wehrpflicht durch das Bundesverfassungsgericht prüfen zu lassen. Der Dresdener Jurastudent Jörg Eichler sitzt seit November 1998 in bereits fast drei Monate U-Haft.

Gerold Hildebrand

Literatur zum Freundeskreis Wehrdiensttotalverweigerer der DDR

 

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